Samstag, 30. Dezember 2017

Ein Wochenende im Februar 2001...

Zeit mal wieder im Buch der Erinnerung zu blättern... Heute gibt es drei Spiele aus dem "gelobten Land", Abstiegskampf aus dem Pott und einen Nachruf auf Francesco Romer, besser bekannt unter dem Namen "Bae" - erschienen in der 15. Ausgabe des (PF)LÄSTERSTEINS (März 2003)...
 
24. Spieltag Serie B Italien am 23.02.2001
Stadio Pierluigi Penzo Venezia
Venezia Mestre vs. Ancona Calcio 2:1
 
Unmittelbar nach der Arbeit machte ich mich zusammen mit Marco, der sich bereits seit Montag in Bayern respektive Österreich... tja, während ich über allerlei steuerlichem Kram saß, frönte Herr Wächter dem Wintersport... herumgetrieben hatte, auf den Weg nach Süden... Üble Schneestürme zwischen München und Bozen, sowie ein Stau kurz vor Mestre sorgten dafür, dass wir die Lagunenstadt erst um viertel nach acht erreichten... Letztendlich betraten wir das Stadio Pierluigi Penzo erst fünf Minuten nach Spielbeginn... Vor dem Spiel hatten Spieler Venezia Mestres zu Ehren des zehn Tage zuvor verstorbenen Bae, einem Gründungsmitglied der Ultras Unione Venezia Mestre, vor der Curva Sud Blumen niedergelegt... Das heutige Spiel gegen Ancona stand dann auch ganz im Zeichen des verstorbenen Bae, so hing über der Fahne der Ultras Unione ein riesiges Transparent mit der Aufschrift "CONTINUA A CORRERE E A SOGNARE, BAE, NOI SIAMO CON TE!"... "LAUF UND TRÄUM WEITER, BAE, WIR SIND BEI DIR!"... Des Weiteren wurde während der ersten fünfzehn Minuten in der Curva Sud ein Transparent mit der Aufschrift "BAE PER SEMPRE"... "BAE FÜR IMMER" präsentiert, sowie ausschließlich Gesänge für Bae angestimmt... Während sich die Gäste aus Ancona weitgehend zurückhielten, war die Stimmung in der Curva Sud am heutigen Abend ganz ordentlich, was wohl nicht zuletzt am guten Spiel der eigenen Mannschaft lag... Zu Beginn der zweiten Halbzeit hantierten die Ultras Unione mir rund dreißig Bengalen, was den bis dato schon dichten Nebel noch dichter werden ließ. Es folgte eine knapp zehnminütige Spielunterbrechung... Die zweite Halbzeit wurde übrigens mit den ebenfalls anwesenden Sauerländern Jens und Pia mehr oder weniger verlabert... Nach dem Schlußpfiff machte ich mich zusammen mit Marco per Pedes auf den Rückweg zum Bahnhof, und von dort aus weiter mit dem Zug nach Mestre... Anschließend steuerte ich mein treues Spaßmobil nach Padova, wo wir auf dem Parkplatz des Stadio Eugeneo die Nacht verbringen wollten. Da sich dort aber der örtliche Strich befindet, machten wir es uns letztendlich vor einer Kirche in einem Vorort von Padova bequem...
 
24. Spieltag Serie C1 Girone A Italien am 24.02.2001
Stadio Sinigaglia Como
Como Calcio vs. Livorno Calcio 0:0
 
Am nächsten Morgen wurden wir vom Läuten der Kirchenglocken geweckt... Schnell die Schlafsäcke im Kofferraum verstaut, und schon befanden wir uns auf der Suche nach einem Supermarkt. Fünf Minuten später hatten wir einen solchen gefunden... Neben Brot, Wurst und Vodka... äh... Wasser erstanden wir hier auch eine Gazetta dello Sport... Wenig später hüpften zwei Gestalten über den Parkplatz des Supermarktes. Grund dafür war die Verlegung des Spitzenspiels der Serie C Girone A zwischen Como und Livorno auf den heutigen Samstag... (heutzutage reicht ein einfacher Blick via Smartphone ins Internet - irgendwie hatte das früher schon so seinen Reiz... hier mal ne positive, da mal ne negative Überraschung) Da es von Como nach Bergamo, wo am Abend das Spiel der Serie A zwischen Atalanta Bergamo und dem AS Bari stattfinden sollte, keine hundert Kilometer sind, war ein Besuch am Comer See natürlich Pflicht... Um die Reisekosten ein wenig zu drücken, ging es über Stock und Stein... äh... abseits der kostenpflichtigen Autobahnen ins rund zweihundertsechzig Kilometer entfernte Como, wo wir eineinhalb Stunden vor Beginn des Spiels eintrafen... Knapp zwanzig Minuten nach uns kamen die rund vierhundert Zugfahrer aus Livorno am Stadio Sinigaglia ein. Obwohl die Carabinieri den Bereich hinter dem Gästeblock weiträumig abgeriegelt hatten, schafften es ein paar Herrschaften aus Como den Livornesi die Hand zu schütteln... Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sich die Ultras beider Vereine nicht gerade grün sind, was wohl nicht zuletzt an den unterschiedlichen politischen Einstellungen liegt... Gut und gerne 14.000 Zuschauer lockte das Spiel zwischen dem Zweiten und dem Ersten hinter dem warmen (Pizza)ofen hervor... Während die Livornesi (Brigate Autonome Livornesi, Nord Kaos & Co.) das Spiel mit Doppelhaltern, Schwenkfahnen, Rauchfackeln und Bengalen einläuteten, rührte sich bei den Heimfans in den ersten fünfzehn Minuten nichts... In der Folgezeit lieferten sich beide Seiten geniale Gesangsduelle. Obwohl beide Mannschaften zahlreiche Torchancen hatten, stand es nach neunzig spannenden Minuten null zu null... Nach dem Schlusspfiff beobachteten wir noch ein wenig das Geschehen rund ums Stadio Sinigaglia.... Hatten die Livornesi vor dem Spiel den Weg vom Bahnhof zum Stadion noch per Pedes zurückgelegt, wurden sie nun mittels Bussen zurück zum Bahnhof gekarrt... So blieb es zumindest nach dem Spiel weitgehend ruhig... na ja, eine Autobesatzung aus Livorno durfte sich über die freundliche Verabschiedung seitens der Blue Fans Como nicht sonderlich gefreut haben... Unmittelbar nachdem sich die Busse mit den Livornesi auf den Weg zum Bahnhof gemacht hatten, nahmen wir unser nächstes Etappenziel in Angriff...
 
20. Spieltag Serie A Italien am 24.02.2001Stadio Atleti Azzuri d'Italia Bergamo
Atalanta Bergamo vs. AS Bari 0:0

Da wir unterwegs noch einen Supermarkt überfallen hatten... mein Gott, wir hatten halt Durst... erreichten wir Bergamo erst um kurz nach sieben... Nachdem wir unser Auto in einer finsteren Gasse abgestellt hatten, machten wir uns auch schon auf den Weg zum Stadio Atleti Azzuri d'Italia. Nachdem wir unsere bestellten Karten abgeholt hatten, trieben wir uns noch ein wenig in der näheren Umgebung herum... unglaublich, auf was für Leute man hier trifft... ehe wir uns auf die Haupttribüne verzogen... Zum Einlaufen der beiden Mannschaften hantierten BNA, WKA & Co. in der Curva Pisani mit unzähligen Doppelhaltern, Schwenkfahnen und Bengalen, während die knapp hundert mitgereisten Gäste lediglich eine Schwenkfahne, sowie vier Doppelhalter mit in die Lombardei gebracht hatten... Knapp 20.000 Zuschauer sahen in den folgenden neunzig Minuten ein überaus kampfbetontes Spiel, das die Gastgeber trotz drückender Überlegenheit nicht für sich entscheiden konnten... Die Stimmung in der Curva Pisani war an diesem Abend mehr als genial. Es gab eigentlich keine Minute, in der die eigene Mannschaft nicht lautstark unterstütz wurde... Mein Gott, warum kann das bei uns in Bochum nicht auch so sein? Unmittelbar nach dem Schlusspfiff kehrten wir dem bunten Treiben im und ums Stadio Atleti Azzuri d'Italia den Rücken, schließlich hatten wir noch ein paar Kilometer vor uns...
 
23. Spieltag 1. Bundesliga am 25.02.2001
Ruhrstadion Bochum
VfL Bochum vs. VfB Stuttgart 0:0
 
Von Bergamo aus ging es via Verona, Trento, Bolzano, Passo Brennero, Innsbruck, Garmisch, München, Hebertshausen... wo wir mein Spaßmobil gegen Marcos tauschten... Nürnberg, Würzburg und Kassel nach Detmold. Nachdem wir im Hause Wächter ein wenig Augenpflege betrieben hatten, machten wir uns mittels Deutscher Bahn AG auf den Weg nach Bochum... Die Kombination Wodka und Bier schien mir nicht sonderlich bekommen zu sein, da ich am Bochumer Hauptbahnhof beinahe den Bahnsteig geküsst hätte... Als wir das Ruhrstadion eineinhalb Stunden vor dem Anpfiff betraten, beendeten unsere Jungs gerade die Vorbereitungen fürs geplante Intro. Nachdem ich mich noch ein wenig mit Dominik von den Tornados Rapid, der sich mit einigen anderen Wienern nach Bochum verirrt hatte, unterhalten hatte, verzog ich mich an den Bierstand, wo ich mich mit Cobi und Philipp aufs Spiel einstimmte... Kurz vor halb sechs präsentierten wir ein rund dreißig Meter langes Transparent, auf dem wir unsere Herren Profis aufforderten, für sich, für uns und für Bochum zu kämpfen. Des Weiteren kamen in der Ostkurve unzählige Spruchbänder, Doppelhalter und Schwenkfahnen zum Einsatz... Über dem Ruhrstadion zog just zu diesem Zeitpunkt ein Flugzeug seine Bahnen, das ein nettes Transparent im Schlepptau hatte. Mein Kompliment an die Initiatoren dieser Luftshow... Obwohl beide Mannschaften den rund 20.000 Zuschauern spielerisch nicht sonderlich viel boten, war die Stimmung auf beiden Seiten durchaus akzeptabel. Da unsere Herren Profis auch die besten Chancen stümperhaft vergaben, dürften die knapp fünfhundert Stuttgarter letztendlich einen glücklichen Punktgewinn feiern... Nach dem Schlusspfiff verzog ich mich alsbald in Richtung Gästeblock, vor dem Thorsten bereits auf mich wartete... Zwanzig Minuten später befand ich mich in einem der Stuttgarter Busse. Die knapp fünfstündige Fahrt nach Stuttgart Degerloch... äh... Bad Cannstatt verlief wie erwartet feuchtfröhlich... Vom Gottlieb-Daimler-Stadion ging es weiter nach Plochingen, wo ich es mir auf Thorstens Sofa bequem machte. Um kurz nach sechs ging es dann mittels Deutscher Bahn AG weiter Richtung Heimat...
 
Bevor ich Euch ein paar Fotos von der Tour - in Como ereilte mich der Supergau, merkte ich doch erst im Stadion, dass ich meine leeren Filme im Auto vergessen hatte, weshalb es von diesem Spiel keine Fotos gibt - präsentiere, noch der Nachruf an Francesco "Bae" Romer, den ich seinerzeit bereits im (PF)LÄSTERSTEIN (im Original ebenso wie als Übersetzung) abgedruckt hatte...
 
FRANCESCO "BAE" LAUF WEITER
Am Dienstag, dem 13. Februar um neun Uhr fünfzehn ist unser Bruder, Freund und Kumpane von uns gegangen: Francesco Romer, den alle als "Bae" kannten. Was soll man zu einer so grausamen, dunklen, schlechten, ungerechten und absurden Sache sagen? Was kommt aus unserem Herzen, das voller Tränen ist? Wenig, aber nichts Erfundenes. Es reicht, sich daran zu erinnern, was für ein großartiger Mensch Bae während seines kurzen Lebens, das von Sinn und Menschlichkeit geprägt wurde, war. Seine Art andere aufzurütteln und doch ruhig zu bleiben; die Art, in der er an Probleme heranging. Wir, die ihn in der Kurve des Stadions oder im Sozialzentrum kennen gelernt haben, haben von ihm gelernt, dass man Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Gnade erlangen kann, wenn man daran glaubt... davon träumt... Wir werden ihn im Herzen behalten, jeder auf seine Art oder alle gemeinsam, so wie er es wollte. Bae war einer von denen, die leben, um mit anderen zu leben. Er suchte nach Wegen, um eine Einheit zu bilden, auch wenn er einige Male die Einsamkeit suchte. Vielleicht hatte er gerade deshalb diese innere Kraft. Er war einer der wenigen, die niemals diejenigen vergessen, denen es noch schlechter geht. Unvergesslich seine Natürlichkeit und die Wut eines Menschen der nie aufgehört hat zu kämpfen. Er ist in der Kurve aufgewachsen, und mit ihm sind viele andere aufgewachsen. Er kämpfte dafür, dass die Kurve einen besonderen Status erlangte. Er glaubte an die Menschlichkeit, wo auch immer er sich befand. Er wusste, dass nur diejenigen, die von ganz untern kommen, wissen, wie viel Gutes diese Menschlichkeit bewirken kann. Er war begeistert von der Revolution der Zapatisten und träumte davon, jetzt im März Marcos und die EZLN (Zapatistische Befreiungsfront - die EZLN fordert eine Autonomie für die Indianer Mexikos) zu besuchen. Die Krankheit hat es ihm nicht mehr erlaubt. Aber wir werden ihn gemeinsam zu seinem Leuten nach Chiapas bringen. Viele werden sich im nähern, um weniger Angst vor der Arroganz und der Gewalt zu haben, die er nicht akzeptierte, weil er von einer besseren Welt träumte, die für die Schwächsten reserviert war. Es werden sehr viele sein. Bae ist nicht mehr da. Es ist sinnlos, dies zu verdrängen, auch wenn wir es nur schwer akzeptieren können. Aber er ist in unseren Herzen, und von dort kann ihn uns niemand nehmen. Lauf und träume weiter Bae. Wir sind bei Dir.
CENTRO SOZIALE RIVOLTA
TUTTA LA CURVA SUD